BAG gibt umstrittene TVöD-Rechtsprechung zum „Schichtplanturnus“ auf – Überstundenregelung des TVöD für Schichtarbeit unwirksam

Das Bundesarbeitsgericht hat in einer aktuellen Entscheidung (Urt. v. 15.10.2021 – 6 AZR 253/19) zur Abgrenzung von Überstunden im Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD; hier: TVöD-K) einen Teil der tarifvertraglichen Regelungen als unwirksam angesehen. Der 6. Senat des BAG gibt damit wesentliche Teile seiner seit 2013 entwickelten und stark umstrittenen „Schichtplanturnus-Rechtsprechung“ zur Abgrenzung von Überstunden, Mehrarbeit und regelmäßiger Arbeitszeit für Arbeitnehmer im Geltungsbereich des TVöD (und inhaltsgleicher Tarifregelungen, vgl. dazu die Hinweise am Ende dieser Nachricht) mit Schicht- und Wechselschichtarbeit auf.

Im konkreten Fall hatte eine teilzeitbeschäftigte Pflegekraft die Vergütung von Überstundenzuschlägen für geleistete Mehrarbeit oberhalb ihrer arbeitsvertraglich vereinbarten Wochenarbeitszeit entsprechend den Regelungen für Vollzeitbeschäftigte verlangt. In der Vergangenheit hatte das BAG geurteilt, dass bei einer rechtskonformen Auslegung der für Schicht- und Wechselschichtarbeit geltenden Überstundenregelungen des TVöD-K auch teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmer Ansprüche auf Überstundenzuschläge bereits bei Überschreitung ihrer reduzierten Arbeitszeit haben können. Für sogenannte „ungeplante Überstunden“, die kurzfristig zusätzlich zum Schichtplan angeordnet werden, hatte es zuletzt einen solchen Anspruch ausdrücklich bejaht. Für „eingeplante Überstunden“, die bereits bei Aufstellung des Schichtplans oder aufgrund späterer Änderungen angeordnet werden, hatte der 6. Senat zumindest erhebliche Zweifel geäußert, ob die Gewährung von Überstundenzuschlägen erst ab Überschreitung der Vollzeit-Grenze mit dem Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten (§ 4 Abs. 1 TzBfG) vereinbar ist.

Mit seiner neuen Entscheidung vollzieht das höchste deutsche Arbeitsgericht eine grundsätzliche Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung zur Abgrenzung und Vergütung von Überstunden bei Schicht- und Wechselschichtarbeit im TVöD. Das BAG hält nunmehr die entsprechenden Regelungen des TVöD-K (§ 7 Abs. 8 Buchst c) TVöD-K; die Regelung entspricht dem TVöD in seiner allgemeinen Fassung) aufgrund fehlender Normenklarheit für unwirksam. Das BAG hatte die Unwirksamkeit der Tarifbestimmung bereits in seiner Leitentscheidung 2013 erwogen. Der 6. Senat hatte aber seinerzeit in Auslegung der Tarifbestimmung eine eigene Definition zur Abgrenzung von Überstunden und regelmäßiger Arbeitszeit formuliert, was unter dem Aspekt der Tarifautonomie nicht zuletzt verfassungsrechtlichen Bedenken begegnete. In der aktuellen Entscheidung hielten die Erfurter Richterinnen und Richter die Regelungen des § 7 Abs. 8 Buchst. c) TVöD-K für nicht anwendbar und versagten der klagenden Pflegekraft die geforderte Überstundenvergütung.

Nach dieser Entscheidung sind die Tarifparteien des TVöD aufgefordert, zeitnah eine Neuregelung der Abgrenzung von Überstunden, Mehrarbeit und regelmäßiger Arbeitszeit bei Schicht- und Wechselschichtarbeit für Voll- und Teilzeitbeschäftigte vorzunehmen. Die Unwirksamkeit der den Schicht- und Wechselschichtdienst betreffenden Regelungen des TVöD wirft dabei zugleich die Frage auf, was bis zu einer tarifvertraglichen Neuregelung gilt. Da die Urteilsbegründung noch nicht veröffentlicht ist und bisher nur eine Pressemitteilung des BAG vorliegt, ist unklar, ob das BAG insoweit die allgemeine Überstundendefinition des § 7 Abs. 7 TVöD (siehe Tarifauszug unten) nun auch auf den Schicht- und Wechselschichtdienst anwenden will oder ob es bis zu einer Neufassung des TVöD überhaupt keine Regelung zu Überstunden im Schicht- und Wechselschichtdienst gibt. Meines Erachtens entspricht die Heranziehung der allgemeinen Überstundenregelung des § 7 Abs. 7 TVöD dem Tarifergebnis eher als der völlige Wegfall einer Überstundenabgrenzung im Schicht- und Wechselschichtdienst.

Geht man vorsorglich davon aus, dass § 7 Abs. 7 TVöD bis zu einer Neuregelung nun auch für Schicht- und Wechselschichtarbeit gilt, dann ergeben sich daraus für die Praxis folgende Konsequenzen:

  1. Die bisherigen sogenannten „ungeplanten Überstunden“ (z.B. bei tagesaktueller Schichtverlängerung oder kurzfristigem „Einspringen aus Frei“) können noch bis zum Ende der Folgewoche ausgeglichen werden, ohne dass ein Überstundenzuschlag fällig wird. Dabei können auch nur solche zusätzlichen Arbeitsstunden zuschlagspflichtig werden, die oberhalb der für Vollzeitbeschäftigte festgelegten Arbeitszeit anfallen.
  1. Die bisherigen „eingeplanten Überstunden“ (Überschreitungen der regelmäßigen Arbeitszeit, die schon bei der Aufstellung des Schichtplans geplant werden oder im Zuge späterer Planänderungen außerhalb ungeplanter Überstunden anfallen) können im gesamten Ausgleichszeitraum der regelmäßigen Arbeitszeit (gemäß § 6 Abs. 2 TVöD: bis zu 12 Monate, bei Schicht-/Wechselschichtarbeit ggf. auch länger) durch Freizeit „1:1“ – also ohne Überstundenzuschläge – ausgeglichen werden. Der Ausgleich ist also nicht mehr auf den Planungszeitraum als „Schichtplanturnus“ – bei Monatsplanung nach bisheriger Lesart des BAG der Kalendermonat – beschränkt. Es bestehen damit für die Betriebspartner nun endlich wieder größere Regelungsspielräume für sachgerechte Lösungen bei der Abgrenzung von Überstunden und Mehrarbeit und der Führung von Zeitkonten über den Dienst- bzw. Schichtplanungszeitraum hinaus. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil des BAG aus Sicht der betrieblichen Praxis meines Erachtens klar zu begrüßen.

Die aktuelle BAG-Entscheidung ist nicht nur den TVöD anwendbar. Sie gilt auch für alle Flächen- und Haustarifverträge und kirchenarbeitsrechtlichen Regelungen, die den TVöD hinsichtlich der Abgrenzung von Überstunden, Mehrarbeit und regelmäßiger Arbeitszeit bei Schicht- und Wechselschichtarbeit übernommen haben. Dies ist etwa im TV-L, TV-V, TV-Ärzte/VKA, TV-Ärzte/TdL sowie in den Anlagen 30 ff. der AVR Caritas der Fall.

Die Pressemitteilung des BAG finden Sie hier: https://www.bundesarbeitsgericht.de/presse/keine-diskriminierung-von-teilzeitbeschaeftigten-durch-die-regelung-von-mehrarbeit-und-ueberstunden-im-tvoed-k/.

Weiterhin gute Arbeitszeiten wünscht Ihnen –

Dr. Christian Schlottfeldt

§ 7 Abs. 7 TVöD:
„Überstunden sind die auf Anordnung des Arbeitgebers geleisteten Arbeitsstunden, die über die im Rahmen der regelmäßigen Arbeitszeit von Vollbeschäftigten (§ 6 Abs. 1 Satz 1) für die Woche dienstplanmäßig bzw. betriebsüblich festgesetzten Arbeitsstunden hinausgehen und nicht bis zum Ende der folgenden Kalenderwoche ausgeglichen werden.“