Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte: Aktueller Stand der Rechtsprechung, Konsequenzen und Tipps für die betriebliche Praxis

Mit ZEIT.punkt 12/23 hatte ich Sie über die EuGH-Entscheidung vom 19.10.2023 (Az.: C-660/20 – Lufthansa CityLine) zu Mehrarbeitszuschlägen für Teilzeitbeschäftigte informiert.

Zur Erinnerung: Der Europäische Gerichtshof hatte in diesem Urteil einem teilzeitbeschäftigten Piloten Recht gegeben, der gegen eine tarifvertragliche Zuschlagsregelung geklagt hatte, die Mehrarbeitszuschläge erst ab Überschreitung der monatsbezogenen Vollzeit-Arbeitszeit vorsah. Der EuGH hielt dies für eine sachlich nicht gerechtfertigte Diskriminierung des in Teilzeit arbeitenden Klägers und sah darin eine unionsrechtswidrige Tarifbestimmung.

Zwischenzeitlich hat sich auch das Bundesarbeitsgericht erneut mit der Thematik befasst und die Grundsätze der EuGH-Rechtsprechung in seiner Entscheidung vom 05.12.2024 (8 AZR 372/20) übernommen. In der Folge erreichen mich immer wieder Fragen zu den praktischen Konsequenzen dieser Entscheidungen. Leider werden die genannten Urteile in Besprechungen und Newslettern oft unvollständig wiedergeben. Vor diesem Hintergrund und mit Blick auf weitere neuere Rechtsprechung informiere ich Sie nachstehend gern über den aktuellen Stand zu diesem Thema:

1. Entscheidung des BAG v. 05.12.2024 (8 AZR 372/20): Monatsbezogener Schwellenwert für Überstundenzuschläge diskriminiert Teilzeitbeschäftigte und Frauen
Das Bundesarbeitsgericht hatte – ähnlich dem oben genannten EuGH-Urteil – eine für Voll- und Teilzeitbeschäftigte einheitliche monatliche Zuschlagsgrenze für Überstundenzuschläge bei einem ambulanten Dialyseanbieter zu bewerten.

Wie der EuGH hielt der 8. Senat des BAG dies für einen Verstoß gegen das spezialgesetzliche Diskriminierungsverbot für Teilzeitbeschäftigte (§ 4 Abs. 1 TzBfG). Im konkreten Fall sah das Gericht außerdem eine zumindest mittelbare geschlechtsbezogene Diskriminierung als gegeben an, da in der Gruppe der in Teilzeit beschäftigten Arbeitnehmer signifikant mehr Frauen als Männer vertreten waren.

Das BAG hält allerdings – wie der EuGH – einheitliche Schwellenwerte für derartige Zuschläge nicht generell für unzulässig. Dieser Umstand kommt in den Anmerkungen zu diesem Urteil oft zu kurz. Der Senat konnte jedoch im konkreten Fall einer monatlichen Auslösegrenze für Zuschläge – wie bereits der EuGH im Fall des Piloten – keinen sachlichen Grund für eine Ungleichbehandlung von Voll- und Teilzeitkräften erkennen. 

Ob andere Konzepte der Gewährung von Mehrarbeits- und Überstundenzuschlägen sachlich gerechtfertigt sind, hatte das BAG hier nicht zu entscheiden. Der EuGH hatte in diesem Zusammenhang zumindest angedeutet, dass etwa wöchentliche Schwellenwerte für Zuschläge anders zu bewerten sein könnten.

„Im Übrigen ist nicht ausgeschlossen, dass in diesem Zusammenhang ein System zum Arbeitsstundenausgleich, ein Ruhetagesystem oder gar die Festlegung eher wöchentlicher als monatlicher Grenzwerte … eine Maßnahme sein mag, die im Hinblick auf die Erreichung des genannten Ziels angemessener und kohärenter ist als die im Ausgangsverfahren in Rede stehende.“ (Rn. 64).  

2. Weitere Entscheidungen der deutschen Arbeitsgerichtsbarkeit zur Gewährung von Mehrarbeitszuschlägen für Teilzeitbeschäftigte

2.1 LAG Mecklenburg-Vorpommern: Jahresbezogene Zuschlagsgrenze diskriminierend
Auch das Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 13.02.2024 – Sa 58/21) gewährte einer klagenden Teilzeitbeschäftigten eines Handelsunternehmens Zuschläge für die Überschreitung ihrer individuellen Arbeitszeit.

In diesem Fall lag im Betrieb eine Jahresarbeitszeitregelung vor. Die Entscheidung liegt damit auf der Linie des EuGH und des BAG, da auch hier eine „weiträumige“ stundenvolumenbezogene Zuschlagsgrenze galt, für die, wie bei einer Monatsgrenze, nach Auffassung des Gerichts kein sachlicher Grund erkennbar war.

2.2 LAG Düsseldorf: Richterliche Anpassung von Zuschlagsregelungen „nach oben“ in Fällen der Diskriminierung geboten
Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf (Urt. v. 15.04.2025 – 9 SLa 431/24) sprach einem Flugzeugführer Mehrarbeitsvergütung vor dem Hintergrund einer – wie im Piloten-Fall des EuGH – ebenfalls monatlichen Auslösegrenze für Zuschläge zu. Auch das LAG Düsseldorf konnte in einer solchen Monatsgrenze keinen zur Erreichung eines legitimen Ziels (z.B. Gesundheitsschutz) sachlich begründeten Schwellenwert erkennen. 

Bemerkenswert ist, dass das Gericht – ungeachtet der nach dem BAG-Urteil v. 05.12.2024 ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.12.2024 (1 BvR 1109/21, 1 BvR 1422/23) – beim Anspruch auf Mehrarbeitsvergütung eine „Anpassung nach oben“ für gerechtfertigt hielt, also dem Kläger über den Tarifvertrag hinaus die Mehrarbeitsvergütung der Vollzeitbeschäftigten zusprach. Im genannten Beschluss hatte sich das BVerfG skeptisch gegenüber einer solchen Anpassung nach oben zur Korrektur einer gleichheitswidrigen Tarifbestimmung (hier: Nachtzuschläge) gezeigt. Das LAG Düsseldorf legte diese Zurückhaltung nicht an den Tag und begründete dies mit dem anders gelagerten Charakter der durch die tarifvertragliche Mehrarbeitsregelung verletzten höherrangigen Rechtsnorm (hier: unionsrechtlich fundiertes Diskriminierungsverbot des § 4 Abs. 1 TzBfG).

2.3 LAG Berlin-Brandenburg: Wochenbezogene Zuschlagsgrenze diskriminierend, wenn sie keinen Schutzaspekt verfolgt
Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (Urt. v. 16.05.2025 – 12 Sa 1016/24; nicht rechtskräftig) hatte über die wochenbezogene Zuschlagsgrenze des Manteltarifvertrags Einzelhandel Brandenburg zu entscheiden. Dieser legt die Auslösegrenze für Überstundenzuschläge auf die Überschreitung der jeweils vertraglich oder betrieblich für Vollzeitarbeit bestimmten Wochenarbeitszeit zwischen 38 und 40 Wochenstunden fest.

Das Gericht argumentierte, dass es bei der Grenze nicht um den Schutz der Arbeitnehmer vor Überlastung gehe, sondern nur um die Überschreitung eines bestimmten wöchentlichen Arbeitszeitvolumens, das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses, nicht eines Schutzkonzepts sei. Das Argument, dass gerade bei der Aushandlung von Vollzeitgrenzen in Tarifverträgen typischerweise auch Gesundheitsschutzaspekte eine Rolle spielen, hielt das LAG nicht für stichhaltig: Es bedürfe stets objektiver und transparenter Kriterien für die Bewertung von Zuschlagsgrenzen als Schutznormen. Ob diese Betrachtungsweise dem vom Bundesverfassungsgericht in der oben zitierten Entscheidung betonten tarifvertraglichen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifparteien gerecht wird, mag zweifelhaft sein.

Zugunsten der Arbeitnehmerin nahm das LAG Berlin-Brandenburg wie das LAG Düsseldorf eine Anpassung der Zuschlagsregelung „nach oben“ vor. Die Entscheidung ist allerdings nicht rechtskräftig (Revisionsverfahren ist beim BAG anhängig).

3. Konsequenzen und Tipps für die betriebliche Praxis

3.1 „Je weiträumiger, desto diskriminierender“
Nach der Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts und weiterer Gerichte müssen einheitliche monats- oder jahresbezogene Grenzen zur Abgrenzung zuschlagspflichtiger Arbeitszeit als diskriminierend gegenüber Teilzeitbeschäftigten gelten. 

Als Faustregel lässt sich formulieren: Je (zeitlich) weiträumiger solche Grenzen angelegt sind, desto eher spricht eine Vermutung für die Unzulässigkeit. Dies betrifft etwa tarifvertragliche oder betriebliche Regelungen, die an die Überschreitung der Vollzeit-Arbeitszeit innerhalb eines mehrmonatigen oder jahresbezogenen Ausgleichszeitraums eines Zeitkontos anknüpfen.

3.2 Einheitliche Mehrarbeitsschwellen als Belastungsgrenzen können weiterhin zulässig sein
Zuschlagsregelungen, die dagegen eine – zum Beispiel akut anfallende – Mehrbelastung honorieren und dabei nicht zwischen Voll- und Teilzeitbeschäftigten differenzieren, können dagegen weiterhin zulässig sein. Das gilt insbesondere, wenn sich solche Grenzen auf arbeitswissenschaftlich oder arbeitsmedizinisch begründete Erkenntnisse stützen können. Unabhängig vom Betrachtungszeitraum (Woche, Monat, Jahr) sind einheitliche Schwellenwerte aber immer dann problematisch, wenn sich in Ihnen lediglich mittelbar ein (tarif-)vertragliches oder betriebliches Verhandlungsergebnis widerspiegelt. 

So ist etwa die Zuschlagsregelung des Tarifvertrags für den Öffentlichen Dienst (TVöD) und an ihn angelehnter weiterer Tarifregelungen (z.B. TV-V, TV-L, TV-Ärzte/VKA) oder kirchenrechtlicher Regelungen (z.B. AVR Caritas) nach wie vor vertretbar: Die Überstundenregelungen knüpfen an die Überschreitung der wöchentlichen Vollzeitgrenze durch – in der Regel kurzfristig – zusätzlich zum Dienstplan angeordnete Mehrstunden ohne Ausgleich in der Folgewoche an. Hier geht es bei den Überstundenzuschlägen also auch um die Abgeltung der Erschwernis einer Zusatzbelastung zur geplanten Arbeitszeit, die nicht zeitnah kompensiert wurde.

3.3 Betriebliche Regelungen sollten geprüft und gegebenenfalls angepasst werden – Flexibilisierungsspielräume der Tarifverträge nutzen!
Nach den oben genannten Entscheidungen des EuGH und der deutschen Arbeitsgerichte ist klar: Es wird keinen Weg zurück in eine beliebige Gestaltungsfreiheit für Mehrarbeitszuschläge geben. Tarifvertragliche und betriebliche Regelungen sollten deshalb überprüft und gegebenenfalls geändert werden. Für das Tarifrecht ergibt sich damit auf „breiter Front“ die Notwendigkeit von Anpassungen. Dabei gilt weiterhin: Es gibt keinen gesetzlichen Anspruch auf Mehrarbeits- und Überstundenzuschläge bei Überschreitung bestimmter Arbeitszeiten. Dieser folgt auch nicht aus den oben zitierten Gerichtsentscheidungen. 

Bestehende Tarifverträge lassen dabei bereits schon jetzt meist ausreichend Spielraum für betriebliche Regelungen für flexible Arbeitszeiten auch ohne Zuschläge. Da die Interessen vieler Beschäftigter ohnehin eher auf „Zeit“ als auf „Geld“ zielen, sollten solche Spielräume in der betrieblichen Praxis unabhängig von der weiteren Tarifentwicklung schon jetzt stärker genutzt werden. Was der gezielten Prämierung besonders kurzfristiger Arbeitszeitflexibilität (z.B. Einspringen bei Personalausfall) mit einheitlichen Regelungen für Voll- und Teilzeitkräfte nicht im Wege stehen muss.

Weiterhin gute (Arbeits-)Zeiten wünscht Ihnen – mit besten Grüßen –

Dr. Christian Schlottfeldt